
„Ihr wisst nicht, was ihr manchmal so schnell aussortiert. Echte Diamanten“, sagt Thomas Kühn, der seit 30 Jahren in der Berufsorientierung arbeitet und unseren Mitgliedern als Leiter des Unternehmerspiels MIG bekannt ist. „Ich habe mir den Mund fusslig geredet, damit die jungen Menschen Praktika machen können, erst ab etwa 2015 wurde es langsam besser.“ Denn längst geht es nicht mehr darum, den jungen Menschen einfach nur eine Chance zu geben, sondern es wird für Unternehmen immer schwerer, Auszubildende zu finden. Praktika sind ein erfolgreicher Ansatz zur Fachkräftesicherung.
Vorteile für beide Seiten
Für junge Menschen liegen die Vorteile eines Praktikums klar auf der Hand: Sie können sich beruflich orientieren und schon mal überprüfen, ob der Betrieb und der Wunschberuf wirklich zu ihnen passen. „Früh mit Praxis und Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, öffnet neue Fenster und erweitert den Blick ins Berufsleben“, sagt Horst Lüdtke, der Geschäftsführer unseres Netzwerks Schule, Wirtschaft und Wissenschaft. „Ein Praktikum bedeutet, dass man mit dem Ball vorm Tor steht und ihn nur noch reinmachen muss“, erklärt Thomas Kühn die Chance für Praktikanten.
Doch was haben die Betriebe davon, ihren Arbeitsablauf von Praktikanten unterbrechen zu lassen? In Zeiten des Fachkräftemangels eine ganze Menge. „Es wird schwerer für Unternehmen, Arbeitskräfte zu finden. Man muss den Suchradius vergrößern und mehr zulassen“, sagt Thomas Kühn, der aktuell beim Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) im Auftrag des Arbeitgeberverbandes NORDMETALL das Projekt NORDCHANCE-Service koordiniert. Seit 17 Jahren finden hier Jugendliche und junge Erwachsene Unterstützung auf dem Weg in ihre berufliche Zukunft in der Metall- und Elektrobranche. NORDMETALL vertritt zusammen mit dem Arbeitgeberverband Nord mehr als 50 Betriebe im nördlichen Niedersachsen, in Bremen und Bremerhaven mit über 40 Ausbildungsberufen. (Weitere Infos unter www.wir-bilden-den-norden.de/projekte/nordchance-service/). Auf der einen Seite gibt es die Betriebe, die auf unterschiedlichem Niveau von der Ausbildung bis zum Studium Leute suchen, auf der anderen die jungen Leute, deren berufliche Reise noch unklar ist. „Praktika sind ein ganz wichtiger Ansatz, um diese Bedürfnisse zusammenzubringen“, sagt Thomas Kühn. Er setzt sich dafür ein, auch die jungen Menschen anzuschauen, deren Bewerbung auf den ersten Blick vielleicht nicht so zieht. „Ein Praktikum ist weniger förmlich, da können einige Menschen sich besser zeigen“, sagt er. Schlechte Noten oder Fehlzeiten müsse man einfach mal beiseite packen und die Möglichkeit eines Praktikums nutzen, um dem Bewerber trotzdem eine Chance zu geben – und damit auch sich selbst.
Horst Lüdtke nimmt den Blick vom Einzelnen und sieht so einen weiteren Vorteil für die Firmen, die sich den jungen Menschen öffnen: „Sie können sich neu auf die junge Generation einstellen und so die Wunschkandidaten ‚fischen‘.“
Ohne Praktika wäre der Arbeitsmarkt um einige begeisterte Fachkräfte ärmer
Viele Praktika dienen einfach nur dem gegenseitigen Beschnuppern und der Berufsorientierung der Jugendlichen, aber es kann auch außergewöhnlich laufen, wie folgende Beispiele zeigen:
Auszubildender mit Begeisterung
Ein junger Mann mit starker Lernschwäche, der im betreuten Wohnen lebte, war eine Herausforderung für den Arbeitsmarkt. Über die Vermittlung von Thomas Kühn konnte er ein Praktikum als Gas- und Wasserinstallateur machen. Der Betrieb war nach kurzer Zeit begeistert: „Ich weiß noch nicht, wie wir den durch die Prüfung kriegen, aber wir schaffen das!“ Der junge Mann konnte die Werkzeuge nicht schreiben, aber benutzen. Und dabei war er hoch motiviert. Ohne ein Praktikum wäre das wohl unbemerkt geblieben.
Mittlerweile gibt es sogar Unterstützung, um genau solche Auszubildenden fördern zu können: Die Assistierte Ausbildung (AsA flex) ist ein Instrument der Agentur für Arbeit und des Jobcenters, das unter anderem Nachhilfe für Auszubildende anbietet. Der Betrieb steht heutzutage also nicht alleine vor einer derartigen Herausforderung.

Zielorientiert in den naturwissenschaftlichen Bereich
Aus dem mint:pink-Projekt unseres Netzwerks gibt es einen Bericht, wie sehr ein Blick in die Berufswelt einen jungen Menschen verändern kann. Eine Mutter schilderte, ihre Tochter sei ganz im Schulbetrieb verhaftet gewesen und habe bei der Teilnahme an mint:pink und den damit verbundenen Besuchen in Betrieben plötzlich weit über den Schulraum hinaussehen können. „Als Folge hat die Schülerin eine Klasse übersprungen und ist auf die Carl-von-Ossietzky-Oberschule gewechselt, um sich gezielt auf einen Beruf im Bereich Naturwissenschaften und Technik vorzubereiten“, berichtet Cordula Keim, eine der Koordinatorinnen des Projekts.
Wer hätte damit gerechnet?
„Er war ein Grufti wie aus dem Bilderbuch. Mit Tätowierungen, Piercing und allem, was dazu gehört. Eine gute Chance auf dem Arbeitsmarkt hatte er nicht“, beschreibt Thomas Kühn einen weiteren jungen Menschen, dem er ein Praktikum vermittelt hat. Ausgerechnet in den Einzelhandel. Die verblüffende Rückmeldung kam einige Wochen später aus dem Betrieb: „Er ist die Nummer 1 hinter der Fleischtheke! Die Kunden wollen speziell von ihm bedient werden.“ Ohne Praktikum hätte man wohl nie bemerkt, welchen Fähigkeiten in dem jungen Mann geschlummert haben, der seinen Lebensunterhalt jetzt selbst bestreiten kann. Um herauszufinden und zu zeigen, welchen Zugang man zu Kunden hat, muss man eine Möglichkeit haben, es auszuprobieren.
Auch ein skeptischer Praktikant kann passen
Manchmal ist eine Neuorientierung nicht notwendig, weil man den Wunschberuf doch nicht mag, sondern weil er zu beliebt ist und man nicht an einen Ausbildungsplatz kommt. Auch dazu hat Thomas Kühn ein Beispiel: „Ein junger Mann wollte Flugzeugmechaniker werden. Die Ausbildung ist so begehrt, da ging gar nichts.“ Er hätte wieder über ein Jahr warten müssen und selbst dann war ein Erfolg unklar. Er ließ sich auf den Vorschlag von Thomas Kühn ein und begann ein Praktikum als Elektriker für Geräte und Systeme. Nicht ganz das, was er sich gewünscht hatte, aber in diesem Fall war der Praktikant der Überraschte. Schon nach einem Tag war für ihn und auch für den Betrieb klar: „Jo, das ist es!“
Nicht jeder Misserfolg ist ein Fehlschlag
Als eine junge Frau ihr Praktikum in ihrem Wunschberuf in einem Frisörsalon machte, stellte sie bereits nach kurzer Zeit fest: „Nee, das ist es ja gar nicht!“ Sie konnte abbrechen und ein neues Praktikum beginnen: diesmal als Hotelfachfrau. Dort fühlte sie sich sofort wohl. Dennoch kann auch ein abgebrochenes Praktikum ein Gewinn sein, denn wer möchte schon Auszubildende oder spätere Mitarbeiter ohne Motivation im Betrieb haben? Mit den Praktika konnte die junge Frau ihren Weg finden, ein Hotel hat eine gute Auszubildende und ein Frisörsalon hat keine schlechte.
„Es wird Misserfolge geben, aber es gibt genug Erfolge“, sagt Thomas Kühn, der schon unzählige Praktika begleitet hat. „Nicht immer passt es, aber es sind viele dabei, denen man nur eine Chance geben muss.“ Er möchte gerne einen Gedanken in den Betrieben verankern: Wenn wir den jungen Menschen eine Chance bieten, dann ist das auch eine für uns. „Denn das ist das Potenzial, das wir haben. Damit müssen wir zurechtkommen – und können es doch auch!“
Und wie kommt man jetzt an Praktikanten?
Manchmal suchen die jungen Menschen alleine einen Praktikumsplatz und dann kann man als Betrieb nur hoffen, dass man bei den jungen Menschen bekannt ist. Ein guter Weg, sich bei den Jugendlichen bekannt zu machen, sind die Berufsorientierungstage an den Schulen sowie die verschiedenen Berufsmessen oder Ausbildungsmessen wie KOMPASS von der Agentur für Arbeit.
Ebenso fällt man auf, wenn man als Teilnehmer des Referentenpools die Gelegenheit hat, in der Schule einen Vortrag zu einem Fachthema zu halten.
Auch über die Teilnahme an unseren Projekten wie dem Unternehmerspiel MIG, dem Talentpool und mint:pink kann man sich bei den zukünftigen Auszubildenden bekannt machen.
Hier geht es zwar nur um kurze Besuche im Betrieb, aber sie können die Vorbereitung zu einem Praktikum sein. „Wenn die jungen Menschen schon mal im Betrieb sind, ihn fühlen und spüren – das verändert etwas“, sagt Matthias Frischer, der Leiter des Talentpools, und Thomas Kühn berichtet, dass es beim letzten MIG des Kreisgymnasiums Wesermünde gleich mehrere Anfragen bei Betrieben gab – einfach, weil der Kontakt nun hergestellt war.
Auch im Internet gibt es Wege zu Praktikanten. Eine Möglichkeit für unsere Mitglieder ist die Profilseite auf unserer Website, auf der nicht nur der Betrieb kurz vorgestellt werden kann, sondern auch die Ausbildungsberufe aufgelistet werden können.
Eine weitere Möglichkeit ist die Datenbank der Agentur für Arbeit, bei der man sich als Praktikumsgeber eintragen kann.
Besonders wertvoll sind die organisierten Praktikumstage wie der im Herbst stattfindende Career Dive an, den unser Netzwerk neulich beworben hat. „Ein Tag reicht für den ersten Eindruck“, sagt Thomas Kühn. Bei Interesse könne man dann ein längeres Praktikum vereinbaren.
Laden Sie die jungen Menschen zum Schnuppern ein! Es ist gar nicht allen bewusst, wie sehr die Betriebe auf sie warten. Das zeigt die Bemerkung eines überraschten Teilnehmers vom Talentpool Loxstedt nach den Besuchen in den Betrieben: „Die sind ja wirklich an uns interessiert“. Zeigen Sie sich – sonst tut’s ein anderer und die jungen Menschen landen bei ihm.
Text und Fotos Janina Berger